Thursday, December 14, 2006

ANNE TERESA DE KEERSMAEKER: "NETT SEIN HILFT DA NICHT"

Nachdenklich: Anne Teresa De Keersmaeker, 2004
(Foto © Tina Ruisinger)



ANNE TERESA DE KEERSMAEKER GASTIERT MIT ROSAS IM THEATER AN DER WIEN. DA SIE IN IHRER HEIMAT UM DIE EXISTENZ IHRER KOMPAGNIE ROSAS UND IHRER TANZSCHULE P.A.R.T.S. ZITTERN MUSS - DENN DER NEUE OPERNINTENDANT HAT IHREN STAMMSITZ AB 2007 IM THEATRE DE LA MONNAIE GEKÜNDIGT - HÄLT SIE AUCH IM AUSLAND MIT EINEM HILFERUF NICHT ZURÜCK. WIE HIER IM INTERVIEW. (e.o.)


Zum Mozart-Jahresausklang präsentiert das Theater an der Wien in Kooperation mit ImPulsTanz von 16. bis 20.12.06 zeitgenössischen Tanz von Rosas, der beinahe jährlich in Wien gastierenden Kompagnie der belgischen Choreographin Anne Teresa De Keersmaeker. Aufgrund ihrer Konzeptentwicklung aus der Musik, ist sie bekannt für die eigenartige Symbiose von Emotionalität und Intellektualität. Die Emotionalität kommt diesmal von Mozart und dessen Konzertarien. Mehr zu Inhalt und Tanzstil in Mozart / Conzert Arias - Un moto di gioia erzählt Keersmaeker im Kapitel artists / talks / life auf dieser Site (www.intimacy-art.com).

Keersmaeker am Theater an der Wien als Signal

Dass Keersmaeker am Theater an der Wien auftritt, kann als Signal verstanden werden: Als Versuch, zeitgenössischen Tanz in etablierte Bühnen einzuführen und ihn dadurch als Kunstform aufzuwerten. Und zwar ein- bis zweimal pro Saison, wenn es wieder zu einer Kooperation zwischen dem Wiener Tanzfestival und Theater an der Wien kommen wird. Ob es allerdings über den Versuch hinaus fußfaßt, wird sich weisen. Denn Liz King hatte mit zeitgenössischem Tanz an der Volksoper keinen einschlagenden Erfolg. Umso größer war jener während der zweijährigen Volksopernballettdirektion von Giorgio Madia mit modern-klassischem Tanz und lediglich zeitgenössischem BodyWork und Akrobatik - beide Choreographen arbeiteten mit jeweils eigenem Ballett der Volksoper. 2005/06 wurden die Ballette der Staatsoper und Volksoper bekanntlich unter Gyula Harangozó fusioniert - Programmniveau und Tanzqualität scheinen stilmäßig rückversetzt noch immer in der Aufbauphase zu stecken.

Repertoirepflege von Zeitgenossen pflegen

Das sommerliche Tanzfestival ImPulsTanz unter dem künstlerischen Leiter Karl Regensburger schafft hingegen mit internationalen zeitgenössischen Stammgästen an Choreographen Auslastungszahlen von über 95%. Allerdings gastieren jene nur maximal drei Aufführungen lang, sodass die Säale immer voll sind. Mit Live-Orchester - worauf Theater-an-der-Wien-Intendant Roland Geyer bei Tanzvorstellungen in seinem Haus besteht - könnte das schon mehr Publikum anziehen, sodass sich Karl Regensburger mit dieser Kooperation auch so etwas wie eine Repertoirepflege des zeitgenössischen Tanzes erhofft, was bisher eigentlich nur Pina Bausch schaffe.

Repertoire konnte aber auch Anne Teresa de Keersmaeker in ihrer Heimat pflegen, denn sie war mit Rosas und der Tanzschule P.A.R.T.S. über 15 Jahre fixer Bestandteil der Brüsseler Oper und damit auch staatlich subventioniert. Nach Bestellung einer neuen Operintendanz kam nun der Bescheid, künftig auf Rosas zu verzichten. Aus finanziellen Gründen heißt es offiziell. "Wenn ein Operndirektor dagegen ist, kann die Subventionspolitik schnell kippen", vermutet Karl Regensburger und verweist auf die traurige Wiener Situation.

Anne Teresa De Keersmaeker in ihrem berührenden Solo Once 2004: © Gérard Uféras

Existenzangst um Rosas und P.A.R.T.S.


intimacy-art: Sie - und damit Ihre Kompagnie Rosas einschließlich Tanzschule P.A.R.T.S. - verlieren ab 2007 mit neuem Intendanten Ihr Stammhaus an der Brüsseler Oper. Nun ist klar, dass Sie für einen privaten Erhalt Finanzierungsmöglichkeiten und einen neuen Stammplatz finden müssen.
ANNE TERESA DE KEERSMAEKER: Wir hätten eigentlich schon einen Platz in Brüssel, wo wir arbeiten. Neben der Schule.
intimacy-art: Haben Sie einen Manager, der das Organisatorische für Sie erledigt?
KEERSMAEKER: Ja.
intimacy-art: Sind Sie optimistisch, dass es auf eine gewisse Art funktionieren wird?
KEERSMAEKER: Wir haben bisher noch keine Lösung gefunden. Wir suchen noch.
intimacy-art: Man liest, Sie versuchen, über die Länder, wo Sie häufig gastieren, Kontakte zu intensivieren, sodass Sie letztenendes globaler ausgerichtet werden. Also noch mehr als zuvor.
KEERSMAEKER: Nun ja, aber wir brauchen dennoch ein Haus. Das alles wirkt sich als großer Unterschied hinsichtlich des Publikumsaufbaus aus. Es ist auch ein budgetäres Problem.
intimacy-art: Man hört immer, wenn der Tanz von einer Institution verabschiedet wird, es läge an den Finanzen. Nun waren Sie an der Brüsseler Oper aber 15 Jahre. Das ist in der Kunst sehr lange und schon daher eine große Leistung. Hinsichtlich der Kunst-an-sich muß man sich aber fragen, ob es für Sie nicht gut sein kann, sich neu zu definieren? War es Ihrer Ansicht nach wirklich nur eine Finanzfrage, die dahinter steckt?
KEERSMAEKER: Es ist hauptsächlich eine finanzielle Frage. Sie gefährdet das Repertoire und die eigene Natur der Kompagnie. Ich muß auch sagen, dass ich das Brüsseler Opernhaus, La Monnaie, wirklich gemocht habe. Ich mochte es, dort hinzugehen, dort zu spielen. Es liegt im Herzen von Brüssel, von Belgien, von Europa. Es ist eine wichtiger Ort, um sich ein Publikum aufzubauen. Ich werde es daher sehr vermissen. Abgesehen davon, dass ich auch gefühlsmäßig sehr daran gebunden bin. Es ist sehr schwierig für mich, für uns.
intimacy-art: Und wie waren die Reaktionen, als publik wurde, dass Sie samt Kompagnie gehen müssen? Waren die Leute Ihrer Umgebung nett, halfen Sie?
KEERSMAEKER (lacht): Du kannst leider ein derartiges Problem nicht lösen, indem die Menschen nett sind.
intimacy-art: Die konkrete Hilfe reicht also nicht aus?
KEERSMAEKER: Nein. Nein.
intimacy-art: Und wie geht es mit der Schule P.A.R.T.S. weiter?
KEERSMAEKER: Auch da ist die Situation sehr unklar. Sie hängt mit dem Gebäude zusammen. Wir versuchen so eine Lösung zu finden, dass die Regierung das Gebäude subventioniert. Sie hat bisher aber keine Antwort gegeben. Wir warten noch.
intimacy-art: Könnte es sein, dass der Staat die Schule subventioniert, die Kompagnie aber nicht?
KEERSMAEKER: Nein, hier geht es konkret um die Subvention des Hauses von Rosas und P.A.R.T.S.. Das wäre eine große Hilfe.

Once 2004: © Gérard Uféras

FAZIT
BELGIEN SCHEINT SICH GEGENÜBER SEINER STAR-CHOREOGRAPHIN STIEFMÜTTERLICH ZU VERHALTEN - ABER ÖSTERREICH HILFT!


Rosas in WIEN:
* Mozart / Concert Arias - Un moto di gioia im Theater an der Wien * Musikalische Leitung: Alessandro De Marchi * Inszenierung & Licht: Jean-Luc Ducourt * Gesangssolisten: Patrizia Biccirè, Olga Pasichnyk, Iwona Sobotka * Wiener Symphoniker, Klavier: Claire Chevallier * Ort: Theater an der Wien * Zeit: 16., 17., 19., 20.12.2006, 19h30

Wednesday, October 25, 2006

PETER SELLARS: "BEI SOLCHEN KÜNSTLERN HAT MAN KEINE ANGST!"


Magisch, wie sein Programm: Peter Sellars, künstlerischer Leiter des New Crowned Hope-Festivals (© Armin Bardel)


VON 14.11. bis 13.12.2006 LÄUFT DAS LANG DISKUTIERTE NEW CROWNED HOPE-FESTIVAL DES WIENER MOZARTJAHRES AN. KÜNSTLERISCHER LEITER, PETER SELLARS, HAT MIT EINEM STAR-MIX AUS DRITTER BIS ERSTER WELT EIN NEUARTIGES PROGRAMM DURCH SÄMTLICHE KUNSTSPARTEN AUFGESTELLT: ES RUFT, AUSGEHEND VON MOZARTS DIE ZAUBERFLÖTE, LA CLEMENZA DI TITO UND REQUIEM ZU VERSÖHNUNG (IN KRIEGSGEBIETEN), NEUER (GLOBALER) DEMOKRATIE SOWIE TOTENGEDENKEN DURCH MAGIE UND TRANSFORMATION AUF. IM INTERVIEW SCHMETTERT PETER SELLARS SÄMTLICHE KRITIK AB. (e.o.)

intimacy-art: Wir haben gerade einen Ausschnitt von A Flowering Tree als Vorschau zum Festival gesehen: einem japanischen Tanz, der auf weiblicher Tanztradition beruht.
PETER SELLARS: Ja, das war die Einführungsszene des Eröffnungsstücks von John Adams.
intimacy-art: Nun wissen wir, dass diese japanischen Tanzgesten - also jede Phrase für sich - etwas Spezielles bedeuten. D.h. sie sind Sympole für bestimmte Passagen des Geschichte-Erzählens. Die Japaner können diese exakt verstehen, uns bleibt nur das Staunen über die Symmetrie der Bewegungen und die einzelnen Körperbilder. Was machen Sie, damit wir Europäer fähig sind, das zu decodieren?
SELLARS: Nun, selbst im Original ist es nicht so klar zu lesen wie ein Telefonbuch. Ich meine, es ist Poesie. Was man wissen sollte, ist allein, dass hier ein in Armut hinein geborenes Mädchen mit seiner Mutter spricht. Dieser Tanz ist auch für die Japaner in erster Linie Poesie, und nicht nur ein Wissenschaftssystem. Es ist Poesie, die einen schönen Traum eröffnet, einen tiefen Raum zwischen den Räumen, ein neues Universum, eine andere Welt. (Anm. bei fast allen Produktionen sind zur Sicherheit aber deutsche und englische Unter-/Übertitel vorhanden.) Es geht um die vielen Ebenen von Emotionen, Spiritualität, Transformationen, und zwar als Macht der Suggestion.

Mozart ist so groß, weil er eine Projektionsfläche ist

intimacy-art: Was als Entsprechung zum Mozartjahr auch Sinn macht, da sie gerade dieses Stück von der fantasievollen Zauberflöte ableiten. Dennoch scheint Mozart als Grundthema des Festivals generell eher eine Projektionsfläche zu sein, wo sich alles hinein interpretieren läßt, als das echte Thema.
SELLARS: Jede Aera hat Mozart auf die Art interpretiert, wie sie es brauchen konnte. Und die Größe von Mozart - so wie auch von Shakespeare - ist, dass er eben so weitreichend ist, dass man - schaut man tief hinein - diese Dinge findet. Das ist die Potenz des Mozart, und warum er ein Künstler so großen Formats ist. Bei einem Künstler von kleinerem Format, würdest du tief blicken, aber nichts davon finden.

Frauen und Flüchtlinge sind im Aufmarsch

intimacy-art: Sie setzen Minderheiten und Frauen in großem Ausmaß ein, als Thema und ausführende Künstler - sind das die Themen unserer Zeit?
SELLARS: In einem wird sich das 21. Jahrhundert von allen vorigen Jahrhunderten unterscheiden: dass Frauen in Führungsrollen vortreten. Das ist das erste Mal in der Weltgeschichte. Es geschieht auf der ganzen Welt und kann nicht gestoppt werden. Das ist ein sehr aufregender Moment, das miterleben zu können. Die größten Themen unserer Zeit sind aber "Flüchtlinge und Immigration", da die ganze Welt in Bewegung ist. - Der wichtigste Streitfall.
intimacy-art: Inwiefern war schon Mozart ein Wirtschaftsflüchtling?
SELLARS: Nach seiner Don Giovanni- und Cosi Fan Tutte-Produktion konnte er in Wien nicht mehr arbeiten und mußte die Stadt verlassen, um außerhalb Arbeit zu finden. Via Kutschenfahrt ging er auf große Reisen, hoffend, seiner Familie Geld schicken zu können. Aber er fand keine Arbeit und kam nach Wien zurück, so arm, wie er es verlassen hatte. Amerika hatte Künstlern wie Mozart gegenüber eine andere Einstellung: für Arnold Schönberg, Igor Strawinsky wurden warmherzig Arbeitsvoraussetzungen geschaffen, als sie als Flüchtlinge in die USA kamen.

Stars sind berühmt, große Künstler haben Tiefe

intimacy-art: Sie haben bewußt eine Menge "Stars" im Programm, solche, die wir alle kennen, wie das Kronos Quartet, das sich gerne auf ethnische Wanderschaft begibt, und zwar immer auf sehr hohem Klassikniveau.
SELLARS: Genau.
intimacy-art: Es gibt aber auch andere Arten von Stars in Ihrem Programm. Wie definieren Sie einen Star?
SELLARS: Mir geht es da um die Frage höchster Qualität, den lebenslangen Beitrag des Künstlers, seine Kunstform zu perfektionieren, indem er an einem Punkt ankommt, wo du wirklich sagen kannst: das ist mit absoluter Feinheit gemacht worden. Die Feinheit und Ernsthaftigkeit eines Werks, macht seine moralische Kraft aus, seine spirituelle Energie. Das ist dann auch die Aura, die du um einen Menschen spürst, sein Glühen. Denn diese Künstler haben das Gewöhnliche überschritten und sind in eine höhere Ebene gelangt, die außergewöhnlich ist. Das fühlt man, wenn man mit ihnen zusammen ist, man fühlt ihre erstaunliche Präsenz.
intimacy-art: Und wie haben Sie sie gefunden. Denn einige sind weniger populär.
SELLARS: Manche sind sehr, sehr berühmt und bewundert, aber nicht so interessant. Und viele, von denen du nie gehört hast, sind überwältigend. Wie der unglaublich tiefgründige, spartenübergreifende, indonesische Tänzer, Eko Supriyanto, der im Opernfilm Opera Jawa und in der Oper A Flowering Tree spielt. Ich wollte also beide Typen von Stars haben und zwar in dynamischem Verhältnis.
intimacy-art: Und kamen sie zu Ihnen und fragten sie um Mitarbeit?
SELLARS: Nein, ich war viel auf Suche. Das Programm ist Resultat vieler langer Diskussionen.

Sellars im Geist der Toten

intimacy-art: Sie führen neben Ihrer Intendanz zweimal selbst Regie, in The Flowering Tree und in La Passion de Simone. Zweiteres ist meiner Ansicht nach an Mozarts Requiem angelehnt. Ist das für Sie ein besonderes Stück?
SELLARS: Alle Projekte des Festivals enthalten Elemente von allen drei letzten Stücken Mozarts. Das Simone Weil-Stück La Passion de Simone von Kaija Saariaho (Musik) und Amin Maalouf (Text) enthält die Aussöhnung, den unglaublich-spirituellen Sinn, und vom Requiem die Zeremonie von jemandem, an den wir uns erinnern wollen: an die französisch-jüdische Feministin, Philosophin, Mathematikerin und Mystikerin Simnone Weil. Das geschieht in Form von 15 tief bewegenden, erhabenen Stationen. Unsere Aufgabe als Künstler ist es, den Geist der Toten zurück zu rufen.
intimacy-art: Glauben Sie, dass diese letzten Stücke Mozarts wirklich die Besten waren?
SELLARS: Nein, er schrieb so viele großartige Stücke. Es geht nur darum, dass er an diesen dreien in den letzten Jahren seines Lebens arbeitete. Wir wollten die Geschichte weiterführen, Mozarts Geschichte.

Touristen kommen wegen neuem Image

intimacy-art: Würde die Welt mehr Projekte dieser Art brauchen, selbst wenn sie so viel kosten wie das New Crowned Hope-Festival?
SELLARS: Tatsächlich ist das Großartige an New Crowned Hope, dass wir die meisten Projekte so erfüllen, dass das vorhandene Budget lange Zeit und weitreichend wirkt: durch Koproduktionen mit der ganzen Welt. Wien ist einer der Partner. Geld von außerhalb fließt zusätzlich ein. Ich sehe das New Crowned Hope Festival finanziell als Investment. Allein die produzierten Filme werden zu Klassikern, die jahrelang zu sehen sein werden, weltweit. Abgesehen davon, dass das ganze Festival nächstes Jahr im Barbican Center in London, und übernächstes Jahr im Lincoln Center in New York laufen wird. Es war also im Verhältnis ein sehr kleiner Geldbetrag, der investiert wurde. Und mit den Opern ist es das Gleiche.
intimacy-art: Wir hörten außerdem seitens Tourismusverband, dass durch den Tourismus schon jetzt viel Geld nach Wien zurück geflossen ist. Insgesamt gab es 2006 eine Steigerung an Nächtigungen wegen des Mozartjahres um zehn Prozent, was allein 70 Mio. € ausmacht. Damit wurde doppelt so viel eingenommen wie investiert. Glauben Sie, dass Ihre neue Art von Theater die Touristen genauso anlockt wie die Klassik?
SELLARS: Sicher. Wenn du in einer Stadt bist, willst du wissen, was in der Nacht los ist. Und Wien kann dabei sein Image wechseln. Es wurde als Stadt der Konservativen gesehen, der Strauß-Walzer und Sachertorte, und nicht als Stadt, wo hunderttausend Leute auf die Straße gehen, um gegen Haider zu protestieren. Ich denke, das nächste, das neue Wien ist viel interessanter, macht mehr Spaß und ist deshalb noch reizvoller für die Touristen.

Einzigartigkeit trotz globaler Theatersprache

intimacy-art: Glauben Sie nicht, dass mit der Zeit alle Städte gleich werden, wenn überall globales Theater der Integration läuft?
SELLARS: Es gibt bestimmt nichts Vergleichbares zu diesem Projekt. Die Stadt Wien hat damit etwas gemacht, das du nirgendwo sonst in der Welt sehen kannst. Dieses Festival ist sehr ungewöhnlich und wegweisend. Sehr rar und sehr speziell.
intimacy-art: Hatten Sie jemals Angst, während des Schaffensprozesses, gerade weil es auch so viele neidvolle Zwischenrufe gab, als die Gelder vergeben wurden?
SELLARS: Wenn du mit solchen Künstlern wie diesen hier arbeitest, mit Sicherheit nein.(lacht)
intimacy-art: Danke.
SELLARS: Haben Sie einen schönen Tag.

FAZIT PETER SELLARS IST KEIN SNOB. MIT DER LEICHTIGKEIT DES AMERIKANERS, DER ER IST, UND EBENSOLCHER INTELLEKTUALITÄT UND WELTINTERESSIERTHEIT, ERSPÜRT ER IM KLEINEN BUSCHTHEATER EBENSO QUALITÄT WIE IM WELTFÜHRENDEN KLASSIKQUARTETT ODER IM TRENDIGSTEN NEUE-MUSIK-KOMPONISTEN. MACHT WIEN VISIONSREICH INTERNATIONAL, WAS ES BITTER NÖTIG HAT. MIT VIEL LIEBE ZU TÄNZERISCHER, FILMISCHER UND MUSIKALISCHER POESIE - DEN AUSDRUCKSMITTELN DES NEUEN "THEATERS".

PROGRAMM-HIGHLIGHTS

Musiktheater/Tanz:
* A Flowering Tree (UA) // lokaler Hintergrund der Geschichte: Venezuela/Indonesien / Dirigent, Musik & Co-Libretto: John Adams (USA) / Regie & Co Libretto: Peter Sellars (USA) / 14.-19.11., 20h, Halle E
* Requiem (UA) // lokaler Hintergrund: Neuseeland / Choreografie & Design: Lemi Ponifasio (Samoa-Inseln, Pazifik) / Tanz: Mau Company / 25.-28.11., 20h, Halle E
* La Passion de Simone // lokaler Hintergrund: Frankreich / Musik: Kaija Saariaho (Finnland/Frankreich) / Text: Amin Maalouf (USA) / Regie: Peter Sellars (USA) / Dirigentin: Susanna Mälkki (Schweden)/ 26.-30.11., 20h, Jugendstiltheater
* Mozart Dances (EP) // lokaler Hintergrund: USA/Österreich / Musik: Mozart / Choreografie: Mark Morris (USA) / Tanz: Mark Morris Dance Group / 7.-10.12.06., 20h, Halle E

Musik:
* Kronos Quartet (USA) / Neue Musik-Klassik
- 15.11., 20h, Jugendstiltheater: Werke von Osvaldo Golijov
- 16.11., 20h, Jugendstiltheater: Werke von Alexandra du Bois, Franghiz Ali-Zadeh, Tanya Tagaq, Wladimir Martynow
- 17.11., 20h, Jugendstiltheater: Werke von Terry Riley, Henryk M. Górecki
- 18.11., 15-1h, Radiokulturhaus: Alternative Radio - Musik in einer Zeit von Krieg und HOffnung mit dem radikalen Historiker Howard Zinn (Sellars: "Er erzählt eine Geschichte über die USA, die Bush nicht teilen würde...")
* Maria Schneider (USA)
- 1.12., 19h30, Wiener Konzerthaus, Großer Saal / Jazz

(Interview mit Kronos Quartet-Bandleader David Harrington in intimacy-art.com / artists / talks / vision)

Mehr zum Rahmenprogramm (KUNST, ARCHITEKTUR, ESSEN) sowie zum FILM-Special mit Verweisen und Trendzusammenhängen in intimacy-art.com/ aKtuell / REALNEWS / TIPPS;
sowie nach den Premieren in intimacy-art.com/ aKtuell / REALNEWS / CRITIC)
- Gesamtes Programm auf: www.newcrownedhope.org

Monday, September 18, 2006

AIRAN BERG: "ICH FÜHRE KEINE VERSCHLEISSFABRIK"



Photo: Airan Berg vor Graffiti-Schauspielhaus-Wand

BEVOR NOCH-SCHAUSPIELHAUS-WIEN-LEITER AIRAN BERG KUENSTLERISCHER LEITER DER "KULTURHAUPTSTADT LINZ 2009" WIRD,
FEUERT ER NEBEN EINEM SPANNENDEN PROGRAMM 06/07 ZÜNDENDE WORTE ZUR LAGE DER WIENER SZENE AB. (e.o.)

intimacy-art: Sie haben gerade das Programm Ihrer letzten Saison im Schauspielhaus Wien als Künstlerischer Leiter vorgestellt. Was für Gefühle haben Sie dabei?
AIRAN BERG: Lachende mit dem Glauben, ein starkes Zeichen in die Theaterlandschaft gesetzt zu haben, wovon anfangs niemand dachte, es würde mit Erfolg gekrönt sein. Trotz aller Widerstände, die es in so einer Stadt gegen das Neue oder Andere gibt, setzte sich dieses Programm durch. Traurige Gefühle, weil diese Theaterstimme, die die Vielfalt unserer Gesellschaft spiegelt und dabei international wie kaum ein anderes Haus im deutschsprachigen Raum ist, wahrscheinlich wieder verloren gehen wird.

Auslastungsrückgang wegen Barrie Kosky?

intimacy-art: Die Zahlen der letzten Saison zeigen gegenüber den Vorjahren einen Rückgang in Stückeanzahl und Besucherzahlen, während die insgesamte Auslastung mit 87% um zwei Prozent gestiegen ist. Sie begründen es mit Wiederaufnahmen, mehr Auslandsgastspielen, und dramaturgisch reduzierten Zuschauerplätzen ...
BERG: Und weil wir eine viel kürzere Saison hatten. Es fehlte ein Monat.
intimacy-art: Ja, Sie sagten wegen der Baustelle am Haus. Könnte aber auch der Abgang des früheren Co Direktors Barrie Kosky damit zu tun haben?
BERG: Überhaupt nicht, wenn man die Auslastungszahlen im Detail ansieht, waren jene nach ihm viel höher. David Maayan und Constanza Macras haben hier noch größere Zuschauererfolge als er gefeiert. Mit Barries Stücken waren wir dafür aber international unterwegs. Von der Akzeptanz des Publikums und von der Kritik her war wahrscheinlich das letzte Jahr überhaupt die beste Saison. Es funktionierte auch leichter.
intimacy-art: Kosky beklagte damals künstlerische Differenzen mit Ihnen, meinte aber noch: "Airan Berg kann es alleine sicher besser leiten."
BERG lächelt: Naja, künstlerische Differenzen... wir haben sogar Differenzen, was das betrifft. Ich denke, die Haus-Leitung war meine Aufgabe. Barrie war der Hausregisseur. Ich habe und hätte ihn gerne bis zum Ende hier gehabt. Ohne Barrie und diese gemeinsamen Jahre, wäre das Schauspielhaus-Profil viel schwieriger zu etablieren gewesen. Denn ich hatte ihn ja geholt, weil mir sein Stil für diese Stadt passend erschien. Er ist letztendlich ein Theaterpurist, und seine Verbindung zur klassischen Musik ist für Wien perfekt. Jetzt feiert er in Sydney Kritiker-Erfolge.
intimacy-art: Er hat einen der schönsten Regiestile, die es überhaupt gibt. Doch haben Sie den Bogen gut gezogen, indem im letzten Jahr wieder etwas Neues am Schauspielhaus passierte. Das war interessant, weil Kosky doch sehr viel gemacht hatte.
BERG: Ja, die Vielfalt wurde nach ihm größer, und das weiß das Publikum zu schätzen.
intimacy-art: Und das Niveau wurde beibehalten, nur hatte es einen anderen Charakter.
BERG: Ja, Veränderung ist ja nicht immer negativ. Selbst wenn sie in Österreich oft so gesehen wird. Man muß Wut und Enttäuschung über das Ende einer intensiven Theaterbeziehung, wie in jeder anderen Beziehung, einfach in positive Energie ummünzen.
intimacy-art: Man soll aber schon ein bißchen trauern, wenn etwas gut war, oder?
BERG: Sicher, da es mir aber darum ging, positive Energie in diese Stadt zu streuen, ist die gefühlsmäßige Umkehrung klüger, denn die macht auch wieder stark nach innen.

Sprechtheater - So altmodisch wie "Ausländer raus!"

intimacy-art: Minderheiten- und Ausländerintegration scheinen in der Programmgestaltung eine große Rolle zu spielen. Ist Ihnen Politik im Theater wichtiger als Gefühl und Fantasie?
BERG: Das kann man nicht trennen. Wir haben hochpolitische Stücke auf extrem fantasievolle Art mit sehr starken Gefühlen besetzt. Was dem Theater im deutschsprachigen Raum aber generell fehlt, ist Gefühl. Und viele haben gesagt, das Schauspielhaus habe dem Theater die Gefühle zurück gegeben. Fantasie, die Form, ist mir sehr, sehr wichtig, genauso wie der Inhalt. Deshalb arbeiten hier sehr unterschiedliche Künstler, die nicht nur "Sprechtheater" machen, sondern auch mit Bild, Bewegung und Live-Musik arbeiten. Geradezu grenzenlos ist die Fantasie aber im Figurentheater, wo Musik, Figuren, Puppen, Schatten, Tanz einfließen, aber immer so, dass die Inhalte die Form bestimmen. All das gibt es bei uns.
intimacy-art: Ihr stärkster Antrieb liegt aber wohl in der Politik!
BERG: Ja, es geht mir aber weniger um Minderheiten als um das Gesamtbild einer Gesellschaft. Die vielen Sprachen der Straße Wiens gehören in den Lebens-Reflexionsspiegel "Theater" hinein, wo ich gewöhnlich aber nur eine Sprache höre. Diese Theater haben den Sprung in die heutige Zeit verpaßt. Im Schauspielhaus sind multisprachige Produktionen selbstverständlich und werden akzeptiert. Wir müssen nur den Schlüssel geben, wie man sie decodieren, interpretieren, verstehen kann. Das ist unsere Aufgabe als Theatermacher. Im Familientisch wurden auf total natürliche Weise sieben Sprachen verwendet.
intimacy-art: Dass es in der letzten Zeit politisch so viele anti-integrative Parolen gibt, ist das für Sie umso mehr ein Punkt, in diese Richtung zu gehen?
BERG: Parteipolitisch bin ich absolut unabhängig. Ich fühle mich aber durch diesen Haß, der gepredigt wird, bestärkt. Doch machen wir das nicht als Therapiegruppe oder integrative Einrichtung, sondern als hochprofessionelles Theater. Wie die internationalen Küchen, wo man Cevapcici, Sushi, Curry, Pasta essen geht, soll man im Theater auch mehr bekommen als nur Wiener Schnitzel. Dann können wir uns aber nicht nur das Angenehme aussuchen, sondern müssen das ganze Umfeld nehmen.
intimacy-art: Die Kulturstätten, zu denen Sie als Gastspiel gehen, scheinen sehr ausgewählt zu sein.
BERG: Ja, als inhaltsbezogener Mensch schreibe ich nicht Tausende von Briefen in die Welt, in der Hoffnung, dass irgendein Sponsoring oder Gastspiel herein kommen möge, sondern ich suche sehr gezielt Partner, von denen ich denke, es sei inhaltlich und ästhetisch richtig, zu kooperieren. Ein Puzzle-Spiel, das ich sehr vorsichtig aufbaue, sonst verpufft man viel Energie. Und das war sicher einer der Indikatoren, der zum Erfolg führte.

Österreichs Journalisten: zu schwerfällig

intimacy-art: Was hat Sie denn in den Jahren Ihrer Leitung am meisten geärgert oder gestört?
BERG: Manchmal ist die Rezeption in Wien ein bißchen schwerfällig. D.h., es hat sehr lange gedauert, bis man die Arbeit, die wir machen, verstanden hat. Aber nicht das Publikum, sondern eher die journalistische Ebene.
intimacy-art: Die alteingesessenen Kritiker ...
BERG: Aber wenn es sich herumspricht, dass es etwas Tolles gibt, kommen die Leute trotzdem. Man kann in Wien dank des theaterbesessenen Publikums über Mundpropaganda Stücke verkaufen, wie sonst in keiner anderen Stadt.
intimacy-art: Und wie erlebten Sie die Kulturpolitik?
BERG: Die stand immer hinter uns, sodass wir relativ schnell verlängert wurden.
intimacy-art: Sie kritisierten aber, dass erst jetzt die Max-Reinhardt-Seminar-Coproduktion funktionieren würde, nachdem ein neuer Leiter gekommen sei.
BERG: Was auch beim Konservatorium der Stadt Wien der Fall war. Etwas in Wien zu bewegen, dauert also seine Zeit, aber wenn man so obsessiv besessen ist wie ich, und freundlich und stetig immer wieder anklopft, dann kommen die Sachen ins Rollen.

Aufbruch in den Schauspielschulen

intimacy-art: Da es sich speziell beim Max-Reinhardt-Seminar um die bedeutendste Schauspielschule handelt: Glauben Sie, dass damit die künftige Schauspieler- und Regiegeneration in eine offenere Theaterwelt schreitet?
BERG: Junge Schauspieler müssen sich heute sicher an neuen Begebenheiten orientieren. Es wird weniger fixe Arbeitsplätze für Schauspieler in großen Ensembletheatern geben. Wobei die meiste Theaterarbeit, die viel aufregender ist, aber ohnehin ganz woanders stattfindet. Natürlich geht zunächst jeder in die Schaupielschule, um dann ans Burgtheater zu kommen. Nur kenne ich viele, die zwar am Burgtheater, dabei aber sehr unglücklich sind. Doch es gibt Alternativen, was auch die Ausbildungsstätten bedenken müssen. Entweder, um mehr Spaß, andere Projekte zu haben, oder zwischendurch zusätzlich zu arbeiten.
intimacy-art: Es splittet sich aber nicht nur formal auf, sondern der Schauspieler wird künftig noch andere Dinge können müssen.
BERG: Das war auch eine unserer Philosophien. Wir hatten ja nie ein fixes Ensemble, aber wenn man die Spielpläne ansieht, entsteht so etwas wie ein informelles Ensemble, das mit immer wieder unterschiedlichen RegisseurInnen arbeitet. Bei Ong Keng Sen mußte es einen Workshop bei einem Kabuki-Tänzer machen, Barrie Kosky lud eine Stepplehrerin ein, wonach das Ensemble im Stück steppte wie verrückt. Lauter tollle Erfahrungen, für Ensemble, Publikum!

Autoren lieber spielen als nur lesen

intimacy-art: Nun scheinen die großen wie kleineren Theater auf ihren ursprünglich gedachten Probebühnen kaum mehr Theaterexperimente zu machen, sondern nur noch Autoren-Lesungen abzuhalten. Auch Sie haben diesen Programmpunkt. Wird das insgesamt nicht zu viel?
BERG: Wir sind prinzipiell kein Autorentheater. Wir produzieren selbstentwickelte oder interpretierte klassische Arbeiten. Anders als Hans Gratzer 1, die Vor-Tabori-Zeit. Wir haben hier nur ein Lese-Fenster für Autoren, nicht unbedingt Theaterautoren. Und das läuft sehr gut. Bei uns ist es also nicht zu viel. Die großen Theater allerdings, könnten es eher wagen, diese Autoren auch einmal zu spielen, nicht nur zu lesen.

Kontinuität vor Verschleißfabrik

intimacy-art: Ein Unterschied besteht bei Ihnen noch zu anderen bzw. großen Häusern: wenn Stars oder Künstler eingeladen werden, werden jene kaum mit Stolz veröffentlicht. Beim Schauspielhaus spürt man, dass es stolz ist, jene bekommen zu haben, ohne Angst, dadurch möglicherweise als Direktor in den Schatten gedrängt zu werden.
BERG: Das macht wohl das Manko dieser Stadt am Diskurs aus. Viel zu wenige Künstler finden im Vorfeld Beachtung, sie werden auch nicht zu Interviews eingeladen, wie etwa von Treffpunkt Kultur. Da müßten die Medien und die Presse sicher noch genauer hinschauen, um sie einer neuen und breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln. Letztendlich funktioniert es aber dann doch durch die stetige Wiederholung. Barrie Kosky, David Mayaan, Ibrahim Quraishi, Ong Keng Sen sind so zu Stars geworden.
intimacy-art: Wobei Sie sich nicht dem Druck unterwerfen, andauernd jemand neuen präsentieren zu müssen.
BERG: Kontinuität ist mir wichtig. Und wenn einmal etwas nicht so klappt, haue ich denjenigen auch nicht gleich raus. Denn Künstertum und Scheitern gehören zusammen. Es ist sehr wichtig, sich der Kurzlebigkeit von
Beziehungen im Kulturbereich zu widersetzen; der Verschleiß an jungen Begabungen interessiert mich nicht, schlicht, weil ich keine Verschleißfabrik führen mag.

FAZIT: AIRAN BERG IST ALS MENSCH WENIGER AUFFÄLLIG ALS IN SEINER HARTNÄCKIGEN ÜBERZEUGUNG UND KÜNSTLER-TREUE. MÖGLICHERWEISE EIN MANN ZUM PFERDESTEHLEN UND DESHALB GUT FÜR DIE SZENE!

Programm-06/07-Vorschau Schauspielhaus Wien (Haupthaus):

Saray // Mozart alla turca / Ibrahim Quraishi
Quartett // von Heiner Müller / Peter Missotten
Arbeit ist Urlaub // Lustspiel (Gastspiel)
Beethoven in Camera // von Roman Paska
New New West Drama X Herbstausflug // 5 Regisseure (Gastspiel)
I am not the only one // Constanza Macras / Dorky Park
Der Ubu-Komplex // inspiriert von Alfred Jarry / David Maayan