Wednesday, October 25, 2006

PETER SELLARS: "BEI SOLCHEN KÜNSTLERN HAT MAN KEINE ANGST!"


Magisch, wie sein Programm: Peter Sellars, künstlerischer Leiter des New Crowned Hope-Festivals (© Armin Bardel)


VON 14.11. bis 13.12.2006 LÄUFT DAS LANG DISKUTIERTE NEW CROWNED HOPE-FESTIVAL DES WIENER MOZARTJAHRES AN. KÜNSTLERISCHER LEITER, PETER SELLARS, HAT MIT EINEM STAR-MIX AUS DRITTER BIS ERSTER WELT EIN NEUARTIGES PROGRAMM DURCH SÄMTLICHE KUNSTSPARTEN AUFGESTELLT: ES RUFT, AUSGEHEND VON MOZARTS DIE ZAUBERFLÖTE, LA CLEMENZA DI TITO UND REQUIEM ZU VERSÖHNUNG (IN KRIEGSGEBIETEN), NEUER (GLOBALER) DEMOKRATIE SOWIE TOTENGEDENKEN DURCH MAGIE UND TRANSFORMATION AUF. IM INTERVIEW SCHMETTERT PETER SELLARS SÄMTLICHE KRITIK AB. (e.o.)

intimacy-art: Wir haben gerade einen Ausschnitt von A Flowering Tree als Vorschau zum Festival gesehen: einem japanischen Tanz, der auf weiblicher Tanztradition beruht.
PETER SELLARS: Ja, das war die Einführungsszene des Eröffnungsstücks von John Adams.
intimacy-art: Nun wissen wir, dass diese japanischen Tanzgesten - also jede Phrase für sich - etwas Spezielles bedeuten. D.h. sie sind Sympole für bestimmte Passagen des Geschichte-Erzählens. Die Japaner können diese exakt verstehen, uns bleibt nur das Staunen über die Symmetrie der Bewegungen und die einzelnen Körperbilder. Was machen Sie, damit wir Europäer fähig sind, das zu decodieren?
SELLARS: Nun, selbst im Original ist es nicht so klar zu lesen wie ein Telefonbuch. Ich meine, es ist Poesie. Was man wissen sollte, ist allein, dass hier ein in Armut hinein geborenes Mädchen mit seiner Mutter spricht. Dieser Tanz ist auch für die Japaner in erster Linie Poesie, und nicht nur ein Wissenschaftssystem. Es ist Poesie, die einen schönen Traum eröffnet, einen tiefen Raum zwischen den Räumen, ein neues Universum, eine andere Welt. (Anm. bei fast allen Produktionen sind zur Sicherheit aber deutsche und englische Unter-/Übertitel vorhanden.) Es geht um die vielen Ebenen von Emotionen, Spiritualität, Transformationen, und zwar als Macht der Suggestion.

Mozart ist so groß, weil er eine Projektionsfläche ist

intimacy-art: Was als Entsprechung zum Mozartjahr auch Sinn macht, da sie gerade dieses Stück von der fantasievollen Zauberflöte ableiten. Dennoch scheint Mozart als Grundthema des Festivals generell eher eine Projektionsfläche zu sein, wo sich alles hinein interpretieren läßt, als das echte Thema.
SELLARS: Jede Aera hat Mozart auf die Art interpretiert, wie sie es brauchen konnte. Und die Größe von Mozart - so wie auch von Shakespeare - ist, dass er eben so weitreichend ist, dass man - schaut man tief hinein - diese Dinge findet. Das ist die Potenz des Mozart, und warum er ein Künstler so großen Formats ist. Bei einem Künstler von kleinerem Format, würdest du tief blicken, aber nichts davon finden.

Frauen und Flüchtlinge sind im Aufmarsch

intimacy-art: Sie setzen Minderheiten und Frauen in großem Ausmaß ein, als Thema und ausführende Künstler - sind das die Themen unserer Zeit?
SELLARS: In einem wird sich das 21. Jahrhundert von allen vorigen Jahrhunderten unterscheiden: dass Frauen in Führungsrollen vortreten. Das ist das erste Mal in der Weltgeschichte. Es geschieht auf der ganzen Welt und kann nicht gestoppt werden. Das ist ein sehr aufregender Moment, das miterleben zu können. Die größten Themen unserer Zeit sind aber "Flüchtlinge und Immigration", da die ganze Welt in Bewegung ist. - Der wichtigste Streitfall.
intimacy-art: Inwiefern war schon Mozart ein Wirtschaftsflüchtling?
SELLARS: Nach seiner Don Giovanni- und Cosi Fan Tutte-Produktion konnte er in Wien nicht mehr arbeiten und mußte die Stadt verlassen, um außerhalb Arbeit zu finden. Via Kutschenfahrt ging er auf große Reisen, hoffend, seiner Familie Geld schicken zu können. Aber er fand keine Arbeit und kam nach Wien zurück, so arm, wie er es verlassen hatte. Amerika hatte Künstlern wie Mozart gegenüber eine andere Einstellung: für Arnold Schönberg, Igor Strawinsky wurden warmherzig Arbeitsvoraussetzungen geschaffen, als sie als Flüchtlinge in die USA kamen.

Stars sind berühmt, große Künstler haben Tiefe

intimacy-art: Sie haben bewußt eine Menge "Stars" im Programm, solche, die wir alle kennen, wie das Kronos Quartet, das sich gerne auf ethnische Wanderschaft begibt, und zwar immer auf sehr hohem Klassikniveau.
SELLARS: Genau.
intimacy-art: Es gibt aber auch andere Arten von Stars in Ihrem Programm. Wie definieren Sie einen Star?
SELLARS: Mir geht es da um die Frage höchster Qualität, den lebenslangen Beitrag des Künstlers, seine Kunstform zu perfektionieren, indem er an einem Punkt ankommt, wo du wirklich sagen kannst: das ist mit absoluter Feinheit gemacht worden. Die Feinheit und Ernsthaftigkeit eines Werks, macht seine moralische Kraft aus, seine spirituelle Energie. Das ist dann auch die Aura, die du um einen Menschen spürst, sein Glühen. Denn diese Künstler haben das Gewöhnliche überschritten und sind in eine höhere Ebene gelangt, die außergewöhnlich ist. Das fühlt man, wenn man mit ihnen zusammen ist, man fühlt ihre erstaunliche Präsenz.
intimacy-art: Und wie haben Sie sie gefunden. Denn einige sind weniger populär.
SELLARS: Manche sind sehr, sehr berühmt und bewundert, aber nicht so interessant. Und viele, von denen du nie gehört hast, sind überwältigend. Wie der unglaublich tiefgründige, spartenübergreifende, indonesische Tänzer, Eko Supriyanto, der im Opernfilm Opera Jawa und in der Oper A Flowering Tree spielt. Ich wollte also beide Typen von Stars haben und zwar in dynamischem Verhältnis.
intimacy-art: Und kamen sie zu Ihnen und fragten sie um Mitarbeit?
SELLARS: Nein, ich war viel auf Suche. Das Programm ist Resultat vieler langer Diskussionen.

Sellars im Geist der Toten

intimacy-art: Sie führen neben Ihrer Intendanz zweimal selbst Regie, in The Flowering Tree und in La Passion de Simone. Zweiteres ist meiner Ansicht nach an Mozarts Requiem angelehnt. Ist das für Sie ein besonderes Stück?
SELLARS: Alle Projekte des Festivals enthalten Elemente von allen drei letzten Stücken Mozarts. Das Simone Weil-Stück La Passion de Simone von Kaija Saariaho (Musik) und Amin Maalouf (Text) enthält die Aussöhnung, den unglaublich-spirituellen Sinn, und vom Requiem die Zeremonie von jemandem, an den wir uns erinnern wollen: an die französisch-jüdische Feministin, Philosophin, Mathematikerin und Mystikerin Simnone Weil. Das geschieht in Form von 15 tief bewegenden, erhabenen Stationen. Unsere Aufgabe als Künstler ist es, den Geist der Toten zurück zu rufen.
intimacy-art: Glauben Sie, dass diese letzten Stücke Mozarts wirklich die Besten waren?
SELLARS: Nein, er schrieb so viele großartige Stücke. Es geht nur darum, dass er an diesen dreien in den letzten Jahren seines Lebens arbeitete. Wir wollten die Geschichte weiterführen, Mozarts Geschichte.

Touristen kommen wegen neuem Image

intimacy-art: Würde die Welt mehr Projekte dieser Art brauchen, selbst wenn sie so viel kosten wie das New Crowned Hope-Festival?
SELLARS: Tatsächlich ist das Großartige an New Crowned Hope, dass wir die meisten Projekte so erfüllen, dass das vorhandene Budget lange Zeit und weitreichend wirkt: durch Koproduktionen mit der ganzen Welt. Wien ist einer der Partner. Geld von außerhalb fließt zusätzlich ein. Ich sehe das New Crowned Hope Festival finanziell als Investment. Allein die produzierten Filme werden zu Klassikern, die jahrelang zu sehen sein werden, weltweit. Abgesehen davon, dass das ganze Festival nächstes Jahr im Barbican Center in London, und übernächstes Jahr im Lincoln Center in New York laufen wird. Es war also im Verhältnis ein sehr kleiner Geldbetrag, der investiert wurde. Und mit den Opern ist es das Gleiche.
intimacy-art: Wir hörten außerdem seitens Tourismusverband, dass durch den Tourismus schon jetzt viel Geld nach Wien zurück geflossen ist. Insgesamt gab es 2006 eine Steigerung an Nächtigungen wegen des Mozartjahres um zehn Prozent, was allein 70 Mio. € ausmacht. Damit wurde doppelt so viel eingenommen wie investiert. Glauben Sie, dass Ihre neue Art von Theater die Touristen genauso anlockt wie die Klassik?
SELLARS: Sicher. Wenn du in einer Stadt bist, willst du wissen, was in der Nacht los ist. Und Wien kann dabei sein Image wechseln. Es wurde als Stadt der Konservativen gesehen, der Strauß-Walzer und Sachertorte, und nicht als Stadt, wo hunderttausend Leute auf die Straße gehen, um gegen Haider zu protestieren. Ich denke, das nächste, das neue Wien ist viel interessanter, macht mehr Spaß und ist deshalb noch reizvoller für die Touristen.

Einzigartigkeit trotz globaler Theatersprache

intimacy-art: Glauben Sie nicht, dass mit der Zeit alle Städte gleich werden, wenn überall globales Theater der Integration läuft?
SELLARS: Es gibt bestimmt nichts Vergleichbares zu diesem Projekt. Die Stadt Wien hat damit etwas gemacht, das du nirgendwo sonst in der Welt sehen kannst. Dieses Festival ist sehr ungewöhnlich und wegweisend. Sehr rar und sehr speziell.
intimacy-art: Hatten Sie jemals Angst, während des Schaffensprozesses, gerade weil es auch so viele neidvolle Zwischenrufe gab, als die Gelder vergeben wurden?
SELLARS: Wenn du mit solchen Künstlern wie diesen hier arbeitest, mit Sicherheit nein.(lacht)
intimacy-art: Danke.
SELLARS: Haben Sie einen schönen Tag.

FAZIT PETER SELLARS IST KEIN SNOB. MIT DER LEICHTIGKEIT DES AMERIKANERS, DER ER IST, UND EBENSOLCHER INTELLEKTUALITÄT UND WELTINTERESSIERTHEIT, ERSPÜRT ER IM KLEINEN BUSCHTHEATER EBENSO QUALITÄT WIE IM WELTFÜHRENDEN KLASSIKQUARTETT ODER IM TRENDIGSTEN NEUE-MUSIK-KOMPONISTEN. MACHT WIEN VISIONSREICH INTERNATIONAL, WAS ES BITTER NÖTIG HAT. MIT VIEL LIEBE ZU TÄNZERISCHER, FILMISCHER UND MUSIKALISCHER POESIE - DEN AUSDRUCKSMITTELN DES NEUEN "THEATERS".

PROGRAMM-HIGHLIGHTS

Musiktheater/Tanz:
* A Flowering Tree (UA) // lokaler Hintergrund der Geschichte: Venezuela/Indonesien / Dirigent, Musik & Co-Libretto: John Adams (USA) / Regie & Co Libretto: Peter Sellars (USA) / 14.-19.11., 20h, Halle E
* Requiem (UA) // lokaler Hintergrund: Neuseeland / Choreografie & Design: Lemi Ponifasio (Samoa-Inseln, Pazifik) / Tanz: Mau Company / 25.-28.11., 20h, Halle E
* La Passion de Simone // lokaler Hintergrund: Frankreich / Musik: Kaija Saariaho (Finnland/Frankreich) / Text: Amin Maalouf (USA) / Regie: Peter Sellars (USA) / Dirigentin: Susanna Mälkki (Schweden)/ 26.-30.11., 20h, Jugendstiltheater
* Mozart Dances (EP) // lokaler Hintergrund: USA/Österreich / Musik: Mozart / Choreografie: Mark Morris (USA) / Tanz: Mark Morris Dance Group / 7.-10.12.06., 20h, Halle E

Musik:
* Kronos Quartet (USA) / Neue Musik-Klassik
- 15.11., 20h, Jugendstiltheater: Werke von Osvaldo Golijov
- 16.11., 20h, Jugendstiltheater: Werke von Alexandra du Bois, Franghiz Ali-Zadeh, Tanya Tagaq, Wladimir Martynow
- 17.11., 20h, Jugendstiltheater: Werke von Terry Riley, Henryk M. Górecki
- 18.11., 15-1h, Radiokulturhaus: Alternative Radio - Musik in einer Zeit von Krieg und HOffnung mit dem radikalen Historiker Howard Zinn (Sellars: "Er erzählt eine Geschichte über die USA, die Bush nicht teilen würde...")
* Maria Schneider (USA)
- 1.12., 19h30, Wiener Konzerthaus, Großer Saal / Jazz

(Interview mit Kronos Quartet-Bandleader David Harrington in intimacy-art.com / artists / talks / vision)

Mehr zum Rahmenprogramm (KUNST, ARCHITEKTUR, ESSEN) sowie zum FILM-Special mit Verweisen und Trendzusammenhängen in intimacy-art.com/ aKtuell / REALNEWS / TIPPS;
sowie nach den Premieren in intimacy-art.com/ aKtuell / REALNEWS / CRITIC)
- Gesamtes Programm auf: www.newcrownedhope.org

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